Verständnis und Achtsamkeit
Oft wird es als Selbstverständlichkeit angesehen, dass ein Pferd mit dem Menschen allein ins Gelände geht. Doch ist es das wirklich? Mitnichten! Pferde sind hochsoziale Lebewesen, deren Zusammenleben von sozialen Bindungen, Strukturen und Sicherheit gebender Führung geprägt ist. Neben diesem Sicherheitsbewusstsein – und Bedürfnis sind auch Achtsamkeit und Intuition wichtige Merkmale. Zudem sind sie nicht nur in der Lage mit Hilfe feinster Signale nonverbal zu kommunizieren, sondern tun dies auch bioenergetisch – also durch Energieübertragung – und olfaktorisch.
Welche Bedeutung diese Faktoren haben, wurde mir während eines Spazierganges mit meinem Trakehnerhengst Fedor im letzten Jahr bewusst. Ich machte nämlich einen eklatanten Fehler. Da ich von Anfang an auf die vielen kleinen Dinge geachtet habe, gibt es kein Problem, zusammen mit einer Stute spazieren zu gehen, die Herde gemeinsam zur Weide zu führen und selbst wenn die Stuten schon davonlaufen, bleibt er höflich stehen, lässt sich ohne Test abhalftern, wartet auf seinen Keks und geht erst dann. Nun wollte ich allein mit ihm eine Runde um das Feld hinter unserem Haus gehen. Je weiter wir uns entfernten, desto angespannter wurde Fedor und als dann die Stuten wieherten, tat er Selbiges und riss dabei rückwärts am Halfter. Ich reagierte in diesem Moment sehr heftig und auch falsch. Zu Hause hatte ich dann ein gestresstes Pferd, das bedrückt auf dem Paddock stand. Doch was war passiert? Ich war in diesem Moment nicht achtsam und habe so reagiert, wie man es tut, wenn ein Hengst testet oder die Führung infrage stellt und nicht der Situation angemessen.
Betrachtet man wild lebende Pferdeherden, so bestehen diese immer aus mehreren Stuten und einem, manchmal auch mehreren Hengsten, wobei die neben dem „Leithengst“ die Herde begleitenden Hengste nur so lange geduldet werden, so lange sie keinen Anspruch auf die Stuten erheben. Die Aufgabe des Hengstes sind die Fortpflanzung und das Beschützen der Herde, und manchmal übernimmt er auch erzieherische Aufgaben, spielt aber ansonsten keine Rolle im Sozialgefüge der Herde, das sehr komplex ist, in dem sich Freundschaften und Rangordnungen bilden, wobei jedoch der individuelle Rang nicht bewertet wird.
Was würde nun geschehen, wenn der Leithengst sich zu einem Spaziergang aufmachen würde? Er hätte wohl bei der Rückkehr keine Stuten mehr.
Fedor hat eine Stutenherde, von der er nicht abgetrennt steht, sondern mit der er zusammenlebt. Er deckt die Stuten und nimmt seine Rolle als Beschützer sehr ernst. Und nun mute ich ihm zu, diese Herde zu verlassen, und anstatt mit Verständnis zu reagieren, habe ich methodisch gearbeitet und ihn damit überfordert. Es ist daher wichtig, immer die Gesamtheit zu betrachten und souverän zu bleiben.
Nun entwickeln wir das Spazierengehen Schritt für Schritt. Dabei ist es wichtig, das Pferd nicht zu überfordern und dabei dennoch immer ein wenig mehr Wegstrecke zurückzulegen. Fehler sind wichtig und gut, wenn man sie erkennt und an sich selbst im Sinne des Pferdes arbeitet. Natürlich könnte ich mit Dominanz und Abklärung auch etwas erreichen, aber was? Vertrauen? Freundschaft? Liebe? Eine echte Verbindung? Ein stolzes, lebensfrohes Pferd?
Nein, diese Dinge werden mir nur zu Teil, wenn ich empathisch und achtsam bin, jeden Tag aufs Neue wahrnehme, erkenne und an mir arbeite und vor allem die Dinge wahrnehme, die mir täglich geschenkt werden. Nur so können eine wirkliche Kommunikation, echte Freundschaft und eine einmalige Verbindung entstehen.
„Opa Plüsch“
Erst kürzlich bekam ich aktuelle Bilder von „Opa Plüsch“ und war berührt wie schon lange nicht. Vielleicht fragt sich in diesem Moment der ein oder andere, wie man bloß sein Pferd „Opa Plüsch“ nennen kann und begebe ich mich in die Rolle eines Außenstehenden, so kann ich diese Gedanken auch verstehen. Wie oft habe ich auf Kursen Pferdenamen gehört, die einer verbalen Abwertung oder Verniedlichung nahekamen.
Doch möchte ich hier keinen Text über unmögliche Tiernamen schreiben, sondern über ein ganz besonderes Pferd, dessen Spitzname aus dem Mund seiner Besitzerin wie eine der schönsten Liebeserklärungen klingt.
Ich lernte Dumbo, alias Vollblutohr, alias „Opa Plüsch“ vor fast 20 Jahren auf einem Grundkurs kennen. Seine junge Besitzerin und seitdem eine meiner liebsten Freundinnen stellte sich vor und nannte den Namen ihres Pferdes – Dumbo. Einige Teilnehmer schauten irritiert, als seine Besitzerin sagte, den Namen habe er wegen seiner Ohren. Doch es war, WIE sie es sagte. Mit glänzenden Augen sprach sie von ihrem Pferd und man spürte den Stolz und die Liebe zu Dumbo fast körperlich. Leider lahmte Dumbo stark und Jessica wusste nicht, ob er überhaupt am Kurs teilnehmen könne. Umso erstaunter waren wir, als wir einen braunen Traber energetisch über den Paddock toben sahen. Auf dem Platz dann sah man das, was seine Vorgeschichte mit ihm gemacht hatte. Er war physisch und psychisch ein Wrack. Etwa 1,5 Jahre zuvor suchte Jessika ihn sich aus. Einen aufgedunsenen, verwurmten, braunen, im Rücken sehr langen, langohrigen Traber. Er hatte bereits im Alter von 7 Jahren schwere Arthrose, einen fast verheilten Schädelbasisbruch und ließ sich weder führen, noch fahren oder reiten. Jessica, damals selbst in einer Lebenskrise, sah ihn an, hatte Mitleid und kaufe ihn.
Als sie ihn dann vom Hof führte, war es nach etwa 20 Minuten mit dem Mitleid vorbei, denn Dumbo versuchte sich loszureißen – welches Vertrauen in diesen neuen Menschen hätte er auch haben sollen! Als ihm das nicht gelang, verlegte er sich darauf, seine neue Besitzerin vehement anzugreifen, die peitschend ihren Raum verteidigte.
Pferde wie Dumbo sind gerade unter Trabern nicht selten, doch sieht man sie kaum, denn entweder sind sie klar im Kopf und erfolgreich, was ein gewisses Maß an Kampfgeist voraussetzt, oder sie werden aussortiert, gehen durch einige Hände und wandern als lebensgefährlich zum Schlachter. Dabei ist dieser Pferdetyp, zumindest was die Kommunikation angeht, nicht schwierig. – Nur, was das Finden von Antworten angeht!
Bitte, ich möchte an dieser Stelle auf keinen Fall missverstanden werden. Der Alltag mit einem Pferd wie Dumbo ist alles andere als einfach und oftmals sogar furchterregend. Einfach ist lediglich, mit solchen Pferden ins Gespräch zu kommen, denn im Gegensatz zu den vielen Pferden, die gelernt haben, dass Kommunikation mit dem Menschen sinnlos ist, die traumatisiert oder sogar gebrochen sind, sprechen diese eine sehr deutliche, kompromisslose und oft heftige Sprache.
Es gab und gibt drei Wallache in meinem Leben, deren Charaktere Unklarheit mit Kämpfernatur vereinen. Natürlich gibt es andere Wesenszüge, die sie voneinander unterscheiden, doch etwas eint sie – macht Mensch es sich nicht einfach und wechselt Pferde wie Unterhosen, nur weil gerade etwas nicht so gut läuft, sondern gibt nicht auf, dann sind genau diese Pferde später echte Ritter, die für ihren Menschen durchs Feuer gehen – so wie diese drei:
Mecklenburger Gasparo, der Wallach meines Mannes, starb 2018 mit 32 Jahren, obwohl Tierärzte ihm maximal 15 Jahre gaben.
Leo, der Lippizanerwallach meiner Freundin Dagmar, der 2017 starb.
Dumbo, alias Vollblutohr, alias Opa Plüsch – auf den Bildern 29 Jahre alt!
Dumbo war lange Zeit nicht davon zu überzeugen, dass Jessica ihn wirklich führen könnte, griff immer wieder an und versuchte sich loszureißen, wenn er nur einen Traktor oder LKW hörte. Gleichzeitig jedoch war er gesundheitlich eine wahre „Baustelle“: Verletzungen jeglicher Art, plötzliche Futter – und Wasserverweigerung über mehrere Wochen (damals telefonierten Jessica und ich sehr häufig), eine Zahnentzündung und eine schwere Augenverletzung… und kostete entsprechendes Tierarzthonorar.
Doch Jessica gab nicht auf, sie kämpfte, wie Dumbo, doch nicht gegen, sondern für ihn und Dumbo dankte es ihr. Sie konnte ihn entgegen aller Prophezeiungen reiten, wobei man hier von einem Rennpferd spricht, dessen Anhalteweg durchaus lang sein konnte und war ihm der Untergrund zu weich und unheimlich, ließ er sich einfach fallen. In einem Urlaub mit ihm bei uns auf dem Hof, waren Wettrennen mit meiner Trakehnerstute Zatz das Größte für ihn und ich bewundere noch heute, mit welch fröhlichem Gesicht Jessica lachte, wenn Dumbo rückwärts in den Graben rannte, weil es nicht zügig genug vorwärts ging.
Als ich die aktuellen Bilder von ihm zugeschickt bekam, hatte ich Tränen der Rührung in den Augen. Dumbo ist 29 Jahre alt und das auch für seine Jessica, die immer gekämpft hat, nicht gegen, sondern für ihn. Ich hätte diese junge Frau damals verstanden, wenn sie ihn wieder abgegeben hätte, doch sie hat es nicht getan und dafür bewundere ich sie und für die unendliche Liebe, die sie für ihn in sich trägt.
Und ich bin fest davon überzeugt, dass es genau das ist – die Art, wie und ob man uns wahrnimmt, die Empathie und echte Freundschaft, mit der man uns begegnet, die Ehrlichkeit und vor allem aufrichtige Liebe, die uns im Alter von innen strahlen lassen.
Für euch „Opa Plüsch“ und meine liebe Freundin Jessica Martens!
Momente